Geehrte Gäste

Mitglieder der Youth for Understanding

Damen und Herren

Vielen Dank für Ihre Anwesenheit bei meiner Rede über die Wiedervereinigung Deutschlands und ihre Bedeutung für uns heute. Es ist wirklich eine Ehre hier zu sprechen, und ich würdige sehr die Einladung. Ich bin Sam Seitz, und ich studiere Politikwissenschaft und Deutsch an der Georgetown Universität. Heute, am Tag der deutschen Einheit will ich über Integration und Gemeinschaft sprechen.

Jeder kennt die Geschichte des Falls der Mauer. Die Gesichter der Bürger von Osten und Westen zeigten Aufregung, Freude und Hoffnung. Und in einer Nacht wurden Deutschland, Europa und die ganze Welt komplett verändert. Dieser Moment war bedeutungsschwanger, weil er den Fall des Eisernen Vorhangs symbolisierte und eine neue Epoche von Frieden und Freiheit andeutete. Jedoch was dieses Zeugnis vernachlässigt ist die Zeit nach der Wiedervereinigung, nach dem Fall der Mauer, nach dem Ende der früheren Aufregung. Es ist wichtig sich daran zu erinnern, dass die Schaffung eines wiedervereinigten Deutschlands nach dem kalten Krieg auf keinen Fall einfach war. Die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und Westdeutschland waren groß und bedeutsam, und deswegen war das Zusammenschmieden eines geteilten Lands eine lange und anstrengende Angelegenheit. Während die heutige Flüchtlingskrise Druck auf die Welt ausübt, hoffe ich Parallelen zwischen 1990 und heute zu finden, damit wir von der Vergangenheit lernen können, um eine bessere Zukunft zu bauen.

Vielleicht war der schwierigste Aspekt für die Ostdeutschen ihre unterschiedlichen Meinungen über das politische System ihres neuen Lands. Wie die beliebte und bekannte Regimekritikerin Bärbel Bohley 2007 in einer Rede in Washington, D.C. erklärte, benahmen ostdeutsche Menschen sich über viele Jahre, als ob sie noch nicht im wiedervereinigten Deutschland angekommen wären. Und zwar ist dies in einigen Bereichen noch der Fall. Für Bohley und viele andere ostdeutsche Bürger war das demokratische und kapitalistische System Westdeutschlands fremd und unangenehm. Sie mochten ihre alten Gemeinschaften, in denen jeder jeden kannte und unterstützte. Diese Menschen genossen ihre neue Demokratie, aber sie kämpften, in der neuen kapitalistischen Markwirtschaft sich anzupassen und fühlten, als ob sie keine Stimme hätten. Auch hatten diese Menschen nur wenig Erfahrung mit Demokratie, und deshalb wurde der Prozess der Vereinigung von westdeutschen Politikern dominiert.

Diese Probleme werden auch von Statistiken illustriert, so wird zum Beispiel deutlich, dass Arbeitsplätze im Westen gestiegen sind, während die Zahl der Arbeitsplätze im Osten erheblich gefallen ist. Es ist die gleiche Situation mit Lohngefälle, Einkommens-Fortschritten und fast allen anderen wirtschaftlichen Leitindikatoren: Die westlichen Bundesländer waren – und sind noch – reicher und haben eine größere und stärkere Wirtschaft als die der östlichen Bundesländer. Es ist keine Überraschung, dass Statistiken auch zeigen, dass ostdeutsche Bürger weniger Glücksgefühl und positivere Meinungen von der DDR als die im Westen haben. Experten wie Stephan Sievert, die die zwei Regionen erforschen, haben ausgerechnet, dass nur 42% der Bürger aus dem Westen glauben, dass es starke Mentalitätsunterschiede zwischen den beiden Regionen gibt, während ungefähr 60% der Bürger aus dem Osten denken, dass dies ist so. Der Mangel an Elitenetzwerke und Kapital im Osten ist auch ein Problem, das Ungleichheit verursacht. Kurz gesagt gibt es leider noch eine Kluft, die das Land trennt.

Zum Glück sind diese Statistiken nicht alles. Umfragen mit jungen Menschen, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden, zeigen, dass dieses geteilte Land nicht der Fall sein muss! Es muss nicht sein, dass wir immer Ossis und Wessis haben, dass wir an unhöfliche und ungefällige Stereotypen glauben, dass wir einen blühenden Westen und einen deprimierten Osten tolerieren. Es kann nicht sein. Deutschland hat heute noch Probleme mit Integration, aber der Fortschritt ist klar: Die DDR ist Geschichte, und die Bundesrepublik wird immer stärker und vereinigter. Integration ist möglich, und sie passiert jetzt. Aber es gibt ein anderes Integrationsproblem, dem Deutschland jetzt entgegentreten muss. Das Problem ist natürlich die Flüchtlinge aus Syrien, Irak und anderen Teilen des Nahen Ostens. Genauso wie die ehemaligen Ostdeutschen brauchen diese Menschen unsere Hilfe. Sie haben fast nichts außer ihrer Hoffnung und dem Vertrauen in die Menschheit. Die Deutschen haben eine einzigartige Perspektive auf diese Situation, denn sie sind neulich in ihrer eigenen Geschichte dieser Herausforderung und diesem Druck, den sie schafft, gegenübergetreten. Weil sie die Probleme einer gespaltenen Gesellschaft sehr gut kennen, müssen die Deutschen der ganzen Welt zeigen, wie man verlassene und arme Opfer eines rachgierigen und herzlosen Regimes integriert. Wird es Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen geben? Auf jeden Fall! Aber das ist kein Grund nicht zu helfen. Deutschland kann noch einmal versuchen, eine geeinte Gesellschaft – und zwar eine Gemeinschaft – aufzubauen.

Wie ich am Anfang erklärte, gibt es noch immer mehr zu tun. Sie können die erste Welle der Flüchtlinge akzeptieren, aber dann kommen viele mehr. Und sie brauchen Lebensmittel, und sie brauchen Arbeit, und sie brauchen einen Platz, wo sie leben können. Was zuerst als eine einfache humanistische Mission erscheint, wird schwieriger und komplizierter. Es ist nicht unmöglich, aber es benötigt viele Mühen. Deutschlands Erfahrung mit der Wiedervereinigung bedeutet, dass es die Richtung weisen soll. Aber dies ist nicht nur Deutschlands Pflicht: die ganze Welt muss Deutschland folgen, um den vielen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten zu helfen. Die Jugend in Deutschland demonstriert, dass die Beseitigung von alten Feindschaften und Stereotypen realisierbar ist. Ganz unterschiedliche Gruppen können schließlich zusammen in einer großen Gemeinschaft leben. Es ist meine Hoffnung, dass Deutschland und die ganze Welt die Wiedervereinigung als ein Beispiel benutzen können und die Flüchtlinge in unsere Gemeinschaften willkommen heißen.

Ich will Ihnen für Ihre Anwesenheit nochmals danken. Ich hoffe, dass Sie meine Rede genossen haben, und ich hoffe auch, dass wir zusammen eine bessere und offenere Welt schaffen können.